Lilys Ungeduld : Roman

Renoldner, Klemens, 2011
Öffentl. Bücherei Semriach
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Medienart Buch
ISBN 978-3-85256-577-4
Verfasser Renoldner, Klemens Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen und Novellen
Interessenskreis Roman
Schlagworte Psychogramm, Abgründe der Seele
Verlag Folio-Verl.
Ort Wien
Jahr 2011
Umfang 267 S.
Altersbeschränkung keine
Reihe TransferBibliothek
Reihenvermerk CVIII
Sprache deutsch
Verfasserangabe Klemens Renoldner
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Karl Vogd;
Reaktionen der Familienangehörigen auf den Freitod eines geliebten Menschen. (DR)

Klemens Renoldner stellt den Selbstmord der 24-jährigen Lily ins Zentrum seines Romanerstlings. Er zeigt anhand des verwitweten Vaters und der älteren Schwester Veronika, welche Auswirkungen der Freitod eines Menschen auf die engsten Angehörigen haben kann.
Über 62 kurze Kapitel hinweg führt der Autor die Innenwelten von Vater Sebastian und Schwester Veronika parallel. Ihre einzige Verbindung sind der Verlust von Lily, der unüberwindbar scheinende Schmerz über ihren Tod und die Schuldgefühle, die damit einhergehen. Der Roman setzt mit dem prekären Zustand des Vaters ein. Wir treffen ihn als einen gebrochenen Mann, der sein erfolgreiches Berufsleben als Architekt ebenso aufgibt wie seine sozialen Kontakte. Die triste Welt des einsam im Oberengadin lebenden Vaters wird mit Episoden aus Veronikas Leben verschnitten, die als Alleinerzieherin von zwei Kindern und Kinderärztin in Berlin lebt und nun, zwölf Jahre nach Lilys Tod, auf seine Einladung hin den Vater besucht. Lily wird so zur eigentlichen Hauptfigur des Romans, die über Erinnerungen und Erzählungen, über Träume, Fotos, Bilder und Briefe vermittelt wird.
Der Roman "Lilys Ungeduld" ist souverän geschrieben, klug strukturiert und dank subtiler atmosphärischer Beschreibungen kurzweilig. Spannende und lehrreiche Lektüre ist garantiert.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Stabat pater
Klemens Renoldners Roman "Lilys Ungeduld"
Wenn man sich's einmal nicht vorstellen kann, wie es war, dann kommt es darauf an, die Wahrheit zu ergründen. Deswegen fängt man doch an, etwas zu erzählen und auszuforschen, weil man sie entdecken will." So lautet eine zentrale Stelle in Klemens Renoldners Erzählung Der Roman unserer Generation, dem längsten Text aus seiner 2008 erschienenen Erzählsammlung Man schließt nur kurz die Augen. Dabei sei entscheidend, was wir der Fülle der Tatsachen und Erinnerungen hinzufügen, "was wir aus unserer eigenen Seele dabei ergänzen, welche eigene Wahrheit, welche Phantasie wir darüber aufsteigen lassen".
Der Frage, wieweit es möglich ist, die Wahrheit eines vergangenen Lebens in den Griff zu bekommen, widmet sich der Autor in seinem neuen Roman Lilys Ungeduld am Beispiel einer familiären Katastrophe: Eine junge Frau stürzt sich von einer Brücke und schneidet dadurch für immer alle Zugänge zu ihrer Person ab. Der Vater Sebastian Zinnwald, ein erfolgreicher Architekt, zieht sich nach diesem Schock in ein Bauernhaus im Schweizer Engadin zurück und unterbricht zwölf Jahre lang die Verbindung zu seiner älteren Tochter Veronika, die in Berlin als Kinderärztin arbeitet und dort zwei Söhne allein aufzieht.
Zu Beginn von Renoldners Roman lädt Zinnwald seine Tochter zu sich ein, um mit ihr wieder ins Gespräch zu kommen: über den noch immer unbewältigten Suizid - und damit über die verstorbene Lily und ihre in vielem rätselhaft gebliebene Lebensgeschichte. Es wird in der Tat viel gesprochen in diesem Buch. Und es geht dabei nicht nur um die sprachliche Annäherung an Ereignisse und Abläufe aus einer fernen Vergangenheit, sondern auch um die Frage, wieweit eine solche Annäherung überhaupt gelingen kann.
Vorangegangen ist jedoch eine fundamentale Sprachlosigkeit, die sich im Fall Zinnwalds konkret durch einen Sturz von der Treppe zu seinem Atelier manifestiert hat: Er verliert danach seine Sprechfähigkeit und muss sie erst allmählich wiedererlangen, unterstützt durch eine Logopädin, mit der er (ohne Veronikas Wissen) auch eine neue Familie gründet. Der Sprachverlust wird für ihn buchstäblich zum Ausgangspunkt für eine neue Existenz: "Sein Stummsein half ihm, sich als einen anderen zu begreifen, als einen, der seine bisherige Existenz von sich abgestoßen, der etwas Neues begonnen hatte."
Der Neubeginn soll ihm aber auch ermöglichen, die unerträgliche Erschütterung durch den Suizid der Tochter von sich wegzuschieben: "Alles, was ich in meinem Leben erfahren habe, dachte Zinnwald, hat ein anderer erlebt. Das ist eine andere Biografie." Renoldners Roman handelt nicht zuletzt von den Bewältigungsstrategien, die uns dabei helfen sollen, ein unerträgliches Ereignis zu akzeptieren oder zumindest in unser Leben zu integrieren. Wiederholt wird auf religiöse Erklärungs- und Tröstungsmuster Bezug genommen, auf biblische Texte und auf Rituale, die den Menschen Halt geben könnten, wenn ihnen die Zerbrechlichkeit ihrer Existenz vor Augen geführt wird. Und der Erzähler des Buches ist skeptisch, wenn es um die Kraft dieser Tröstungsmechanismen geht, unseren Schmerz zu lindern: "Das Lamm Gottes nimmt nicht hinweg die Sünden der Welt, es hat noch nie irgendetwas hinweggenommen." Besonders im Gedächtnis haften bleibt eine Passage, in der Zinnwald über die Darstellungsmodelle religiöser Kunst meditiert, etwa über den Usus, die trauernde Gottesmutter neben dem toten Christus im Bild festzuhalten - er reklamiert für sich, dass es doch auch eine Tradition geben sollte, nach der ein Vater in seiner Trauer dargestellt wird, eine ikonische Praxis des "Stabat pater", der unter dem Kreuz des Sohnes seinen Schmerz offenbart.
Die Qualität des Romans liegt jedoch darin, dass nicht ausschließlich die Leidensartikulation des unter dem Kreuz seiner Tochter stehenden Vaters Sebastian Zinnwald Raum erhält. Ist die Identität des vom Suizid der Tochter Versehrten nicht auch eine komfortable Rolle, hinter der er sich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und den angehäuften Verbindlichkeiten erspart? Ein zentraler Vorwurf, den Zinnwald von Veronika zu hören bekommt, besteht darin, dass er letztlich nur versucht habe, aus seinen Schuldgefühlen und aus seinem Leben zu flüchten: "In deiner selbstmitleidigen Art hast du dich als Lilys Opfer inszeniert."
Zweifel befallen Veronika auch gegenüber Lily, etwa wenn sie von deren Hang zur Totalabgrenzung spricht, von ihrer Kompromisslosigkeit gegenüber ihrer Umwelt: "Auch eine Art von Eitelkeit." In Renoldners Darstellung konturieren sich am Beispiel der beiden Schwestern zwei heftig divergierende Lebensmuster - Lily, die sich bedingungslos dem authentischen Erleben hingeben will, voller Bereitschaft, sich überwältigen zu lassen und verwundbar zu bleiben, und Veronika, die sich mit Hilfe einer gewissen Distanz vor Verletzungen und Gemeinheiten zu schützen trachtet: "Damit das Scheußliche nicht von einem Besitz ergreift." Und so wie er die Perspektiven von Vater und Tochter in ausführlichen Dialogen miteinander konfrontiert, vermeidet der Autor im Fall der beiden Töchter erneut jede Parteinahme.
Bezüge auf andere Texte verbinden den Roman mit der literarischen Tradition, von einem Zitat aus Hölderlins Hyperion bis zu einer abschließenden Hommage an Adalbert Stifters Erzählung Der Hagestolz, die Geschichte eines anderen verbitterten Einsiedlers. Viele der über 60 Zwischentitel wirken wie sprachliche Stolpersteine, in denen die Problematik der Wahrheitssuche und der (Re-)Konstruktion lebensgeschichtlicher Zusammenhänge (durch unvollständig hingesetzte Wortfolgen wie "Was du sagst, das läuft darauf hinaus" oder "Man möchte sagen, alles spricht dafür, aber") ein weiteres Mal angesprochen wird, oft mithilfe von Zitaten aus Ludwig Wittgensteins Aufzeichnungen Über Gewißheit.
So besticht Lilys Ungeduld vor allem durch die reich orchestrierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen sprachlicher Rekonstruktion vergangener Lebensgeschichten: als Zugang zum Verstehen d 13f7 es für immer unzugänglich Gewordenen - oder einfach als Mittel gegen den Schmerz: "Wir tragen Splitter zusammen, begreifen dies und jenes, erinnern uns an Bilder, Worte, Szenen, Situationen, aber daraus setzt sich nichts zusammen", lässt der Autor den trauernden Vater sagen. "All das dämmernde Suchen und Forschen bot keinen Trost."
Seine Tochter Veronika hingegen widerspricht einem Studienfreund Lilys, der von der sprachlichen Annäherung an die Toten nicht viel hält (man reduziere sie dadurch nur auf ihre "tragische Geschichte", meint er, das verstelle den "Blick auf das Wesentliche"), mit einem Bekenntnis zur heilenden Macht der Worte: "Reden, das ist das Einzige, was hilft. Wie in einer Therapie."
Manfred Mittermayer

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Quelle: Pool Feuilleton;
In manchen Familien ist wie bei einem Eisberg nur der unwesentliche Teil sichtbar, die wahren Klumpen des Familiengefüges bleiben unsichtbar, weil sie schon im Jenseits liegen.
In Klemens Renoldners Roman hat Lily in der Blüte ihres Lebens Suizid verübt, indem sie scheinbar grundlos von einer Brücke auf den Grund eines Flusses gesprungen ist.
Nach dem Tod der 24-jährigen Lily implodiert die Familie. Der Vater, ein Architekt, zieht sich verbissen in seinem Haus im Engadin zurück, die ältere Tochter Veronika, lebt halbwegs erfolgreich und gefestigt als alleinerziehende Ärztin in Berlin. Nach zwölf Jahren scheint die Trauerstarre aufgehoben, der Vater bittet seine Tochter zu einer Aussprache mit Aussicht auf Versöhnung.
Ungelenk und unbeholfen versuchen Tochter und Vater ihre Sprachlosigkeit zu überwinden, der Vater hatte nach Lilys Tod überhaupt einen völligen Sprachverlust, jetzt versuchen sie, "Schluss zu machen mit der Suizid Poesie". (73)
Vater hat sich voll in die Malerei geworfen, Lily-Bilder sollen das Unsagbare verdeutlichen, vielleicht lässt er sich wieder in die Architektur zurückführen, hofft seine Tochter. Als der Architekt von vermutlichen Tschetschenen zusammengeschlagen wird, ist das beinahe ein willkommener Akt, um wieder mit der Umwelt in Verbindung zu treten.
Lilys Tod wird man wohl nie enträtseln können, meinen beide, vielleicht war sie nicht geeignet für diese Welt, wahrscheinlich war sie mit sich selbst zu ungeduldig. Vielleicht aber hat sie die Glückserwartung der heilen Familie in den Tod getrieben.
"Wenn von Lily die Rede war, hieß es damals nur: Lily, die Kluge, Lily, die Glückliche. Weil sie strahlen konnte wie keine andere. Weil sie sich begeistern konnte wie niemand sonst." (58)
Quasi in einem Showdown der Familiengeschichte übergibt der Vater an seinem 72sten Geburtstag in New York in einer Museumshalle voller Dinosaurier eine Vollmacht über alle Erbschaftsangelegenheiten und sein Vermächtnis an seine Tochter. Was ist schon eine Familiengeschichte gegen die Zeitlosigkeit ausgestorbener Dinosaurier.
Klemens Renoldner erzählt mit vielen Rucken von Kleinkapiteln eine amorphe Familiensage, die letztlich voller ungelöster Rätsel bleibt. Die einzelnen Mini-Kapitel werden dabei mit verheißungsvollen Titeln ausgestattet, die oft ein Schritt in die Leere, eine Versuchung zur Scheinlösung andeuten. "Wenn alles für die Hypothese spricht, was ist dann wahr?" (239) Nur das beharrliche Nachfragen und Aussitzen macht vielleicht einen Sinn. Und gegen den Lauf des Lebens gibt es ohnehin kein Rezept, das beweisen die Dinosaurier.
Helmuth Schönauer
Bemerkung Katalogisat importiert von: Rezensionen online open (inkl. Stadtbib. Salzburg)
Exemplare
Ex.nr. Standort
4825 DR, Ren

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